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Jüdisches Museum Wien, Dorotheergasse 11, Wien, www.jmw.at, Judentum, Wien

Jüdische Piraten und Räuberbanden

Nahtlos geht die Ausstellung dann von fiktiven Rachefantasien zur Realität jüdischer Racheakte durch Piraten, Räuberbanden bis hin zur „Kosher Nostra“ über. Allein schon der Gedanke an Seeräuberei lässt heutige abenteuerliche romantische Herzen schneller schlagen. Um dem Purim- oder Faschingskostüm noch den letzten Schliff zu verleihen, werden dann desöfteren Augenklappen hervorgeholt, die in der Phantasie zum Piratenzubehör dazu gehört. Weitgehend unbekannt hingegen ist, dass dieses auf den Piraten „Sinan der Jude“ zurückgeht, der als gefürchteter Draufgänger im Kampf ein Auge verlor und dieses mit einem schwarzen Stirnband verdeckte. Sinan war einer der über 100.000 spanischen und portugiesischen Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden. Seine Familie fand, wie viele andere Juden auch, im Osmanischen Reich eine neue Heimat. Als Pirat unter dem Befehl des osmanischen Korsaren Hayreddin Barbarossa, dem späteren Großadmiral der osmanischen Flotte und Generalgouverneur von Algier, war Sinan an der Vertreibung der Spanier aus Bône und Constantine im Jahr 1529 beteiligt. Für ihn, den der Gouverneur von Portugiesisch-Indien 1528 voller Respekt den „großen Juden“ bezeichnete, ebenso wie auch für die späteren jüdischen Piraten Samuel Pallache und Benjamins Franks und viele andere, war die Freibeuterei zugleich eine Rache und Genugtuung gegen Spanien und Portugal, deren Herrschaft sie jetzt nicht mehr machtlos entgegen standen. Ausführlich erläutert auch der Begleitband zur Ausstellung diese in der Forschung lückenhafte, vielschichtige Epoche der jüdischen Kulturgeschichte.

 

Ein dunkles Kapitel in der jüdischen Geschichte sind die Räuberbanden des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, von denen die „Koscher Nostra“ die wohl bekannteste ist. Während der Prohibition waren rund 50 Prozent der Schmuggler jüdisch. Fast alle kamen aus armseligen familiären Verhältnissen, die durch Gewalt und Verbrechen, illegalem Alkohol- und Drogenhandel und verbotenem Glücksspiel Reichtum erlangten und sozial bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft aufstiegen.

  

Gewaltexzesse aufgrund von Staatsversagen

Zeitgleich wuchs in den USA der 1920er und 1930er Jahre der Antisemitismus. In der Ära der Mafia- und Bandenkriege, in der auch jüdische Gangster ihr Unwesen trieben, entglitt dem Staat zunehmend das Gewaltmonopol. Dieser war ­keineswegs mehr überall Herr der Lage und geriet außerstande das Schutzversprechen gegenüber seinen Bürgern einzulösen. Dieses immer sichtbarer werdende Staatsversagen nutzten US-Rechtsradikale, die mit der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland sympathisierten, um tätliche Angriffe auf jüdische Familien und Einrichtungen durchzuführen. Der verzweifelte Hilferuf der jüdischen Gemeinschaft fand bei der „Koscher Nostra“ Gehör. In New York sabotierte Meyer Lansky mit seinen Gefolgsleuten antisemitische Aufmärsche und Kund­gebungen. Max „Puddy“ Hinkes knüpfte sich in New Jersey Teilnehmer antisemitischer Versammlungen vor. Auch andere jüdische „Mobster“ griffen gewaltsam durch. Mit diesen Racheakten sollten Exempel statuiert werden und den Angreifern die Wehrhaftigkeit der amerikanischen jüdischen Gemeinschaft vor Augen geführt werden. Die Gewaltexzesse verfehlten ihre Wirkung nicht, die Übergriffe durch antisemitische Gruppierungen stoppten.

 

Wilhelm Gustloff und Nakam

Besonders eindrucksvoll ist der letzte Abschnitt über Rachefantasien und realer Widerstand gegen die NS-Gewalt. „Unser Sohn wollte nicht sterben“, waren die letzten Sätze, die Gina Atlas 1942 auf der Synagogenwand von Kowel in der Ukraine ihrem Ehemann hinterließ. „Zieh in den Krieg und räche deine Frau und deinen einzigen Sohn. Man führt uns in den Tod und wir sind unschuldig!“ Der Ruf nach Vergeltung ist zugleich auch ein Ruf nach Gerechtigkeit. Da die Gesellschaft aber den Juden*innen nicht half, nahmen einige von ihnen ihre Verteidigung selber in die Hand. Beispielsweise David Frankfurter, der am 4. Februar 1936 in Davos den NSDAP-Landes­gruppenführer Wilhelm Gustloff als Racheakt für die systematischen Misshandlungen der Juden*innen erschoss. Mit seiner Tat wollte er die Welt aufrütteln und zugleich zeigen, dass Juden*innen sich gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime auflehnten. In der Schweiz verhaftet, wurde Frankfurter zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt. Erst im Juni 1945 ließ man ihn frei mit der Auflage, die Eidgenossenschaft nie mehr zu betreten. 21 Jahre später, David Frankfurter lebte damals in Israel als hochgeachteter Offizier der Israelischen Verteidigungskräfte, nahm der Große Rat des Kanton Graubünden die lebenslange Landesverweisung wieder zurück, allerdings lediglich als einen Akt des Gnadenrechts. Wilhelm Gustloff wurde vom Goebbelschen Propaganda­ministerium zu einem Märtyrer stilisiert und ein „Kraft durch Freude“-Kreuzfahrtschiff nach ihm benannt. Die Wehrmacht setzte es im Krieg auch als schwimmendes Lazarett und zum Transport von Truppen ein. Während der Kriegswirren bombardierten die Alliierten das Schiff und versenkten es. Noch heute verehren Neonazis Wilhelm Gustloff.

 

Neben weiteren realen jüdischen Widerstandskämpfern, von denen die meisten immer noch unbekannt sind, weist die Ausstellung auch auf Rachefiktionen und literarische Vergangenheitsbewältigung hin. Untermalt wird dieser Themenkomplex mit Videocollagen und Ausschnitten aus Computerspielen zum Thema „Punching Nazi“.

 

Im Nachkriegsdeutschland kam es zu fast keiner Verurteilung der NS-Täter. Auch darüber informiert die anregende Ausstellung, die trotz des umfangreichen Inhalts, vom Altertum bis zur Neuzeit, differenziert und behutsam aufgebaut ist. Die Fülle der Themen schafft einen Ausgangspunkt für neue und lebhafte Debatten.

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KKL, Keren Kayemeth Leisrael, Jüdischer Nationalfonds, KKL Frankfurt, KKL Deutschland, Testament, Israel

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