Anzeige

Jüdisches Museum Wien, Dorotheergasse 11, Wien, www.jmw.at, Judentum, Wien

Leadership statt Formalismus:

Deutschland muss für ein Sondertribunal vorangehen

Sergey Lagosinksy, Bündnis 90 Die Grünen, Mitglied des Europaparalments, Eberswalde,

Sergey Lagodinsky, MEP, Bündnis 90/ Die Grünen Foto: Jens Oellermann

Benjamin Ferencz war 27 Jahre alt, als er Chefankläger bei einem der Nürnberger Tribunale wurde, dem sogenannten Einsatzgruppen-Prozess. Damals ging es um SS-Verbrechen während der Besatzung der Sowjetunion. Heute ist er 102. Und er will weiterleben: „Ich habe keine Zeit zu sterben, es gibt noch viel zu tun“. Damals ging es ihm um die Verbrechen der Nazis, heute breche es ihm das Herz, dass sich Ähnliches wiederhole.

 

Ferencz und sehr viele, auch mich persönlich, treibt an, dass der Angriff Russlands auf die Ukraine nicht nur ein Verbrechen gegen Menschen, sondern auch ein eklatantes Verbrechen gegen den Weltfrieden ist. Es muss bestraft werden. Das schulden wir den Opfern, das schulden wir uns selbst. Deutschland war, auch bedingt durch die eigene Geschichte, immer einer der Treiber für internationale Strafjustiz. Nun muss Deutschland auch an dieser Stelle zur treibenden Kraft werden: Es wäre das Natürlichste für unser Land, hier voranzuschreiten und die Ukrainer in ihrem Bemühen, Putin und seine Leute zur Verantwortung zu ziehen, zu unterstützen. Bisher hört man hierzu aus Deutschland wenig und wenn, dann nur formalistische Bedenken. Stattdessen brauchen wir auch hier die mutige Führung aus Berlin. Das erwartet man in Brüssel, darauf hofft man in Kiew.

 

Römisches Statut erschwert Verfolgung

Eine solche Führung ist bitter nötig. Bereits jetzt untersuchen Staatsanwaltschaften Kriegsverbrechen, es geht wohl um viele Tausende. Der Vorwurf des Genozids steht im Raum. Doch die Ursünde der vergangenen Monate, der Grund für das Unheil, das menschliche Existenzen tilgt und die Weltordnung zu einem Scherbenhaufen deklassiert, könnte ungesühnt bleiben: Der Entschluss der russischen Führung, die Ukraine mit einem Angriffskrieg zu überziehen. Nur die Untersuchung dieses Verbrechens würde uns zu den eigentlichen Verantwortlichen für die neue europäische Katastrophe bringen – dem russischen Präsidenten, dem Außenminister, dem Ministerpräsidenten.

 

Eine starke Führung Deutschlands, wie vieler anderer Staaten, ist auch deshalb nötig, weil die Strafverfolgung der Kriegsaggressoren schwer anzupacken ist. Das Verbrechen des Angriffskrieges ist zwar vielfach national mit Strafe belegt, auch in Deutschland. Doch nach dem Römischen Statut, der Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, ist die internationale Bestrafung nicht einfach. Im Gegensatz zu anderen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde das Verbrechen des Angriffskrieges zuerst gar nicht in das Statut aufgenommen. Zu groß war die Angst vieler westlicher Länder, für ihre eigenen Kriege zur Verantwortung gezogen zu werden. Erst eine spätere Vertragsergänzung erlaubt es dem heutigen Chefankläger Khan, hier tätig zu werden. Doch dieser Ergänzung müssen beide Seiten zustimmen, also auch Russland. Ein Ding der Unmöglichkeit. Erst recht, da Russland bereits 2016 verkündet hat, seinen Beitritt zum Gerichtshof rückgängig zu machen und auf ukrainischer Seite bislang keine Ratifikation erfolgte.

 

Glaubwürdigkeit des Westens Also müssen Wege außerhalb des Internationalen Strafgerichtshofs beschritten werden. Einer davon ist ebenfalls versperrt: Es ist nicht möglich, wie im Jahr 2000 im Fall Sierra Leone ein Tribunal durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einzusetzen. Denn im Sicherheitsrat sitzt der mutmaßliche Verbrecher, Wladimir Putin, mit Vetorecht selbst am Tisch. Denkbar ist aber ein anderer innovativer Weg: die Gründung eines Tribunals mit Unterstützung der Mehrheit der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Hier käme Deutschland eine wichtige Rolle zu. Das wäre zwar politisches Neuland. Aber Neuland war auch die Gründung der Nürnberger Tribunale damals – aus heutiger Sicht eine Selbstverständlichkeit der Weltgeschichte und das prägende Ereignis der heutigen internationalen Strafjustiz. Gerade weil Deutschland jahrzehntelang Vorreiter bei der Verankerung internationalen Strafrechts war, sollte das Auswärtige Amt nun über seinen Schatten springen und auf Ebene der Vereinten Nationen auf eine Schaffung des Sondertribunals hinwirken. Der Weg zu einer breiten Mehrheit in der VN-Generalversammlung ist lang, aber nicht unbezwingbar. Staaten des Globalen Südens könnten überzeugt werden, einer entsprechenden Resolution zuzustimmen, wenn wir etwa gleichzeitig eine Reform des Römischen Statuts in greifbare Nähe rücken und zeigen: Auch der sogenannte Westen ist bereit, aus eigenen Fehlern zu lernen und zu seiner Verantwortung zu stehen. Durch die Komplettierung des Zuständigkeitsregimes entstünde gerade für vulnerable Staaten eine rechtliche Absicherung gegen künftige Aggression. Die Glaubwürdigkeit des Westens wäre wiederhergestellt, die Front gegen das Verbrechen des Angriffskrieges geschlossen.

 

Risiken überschaubar

Es gibt keinerlei gewichtige Gegenargumente, die Deutschlands zögerliche Rolle an dieser Stelle rechtfertigen. Die befürchtete Schwächung des Internationalen Strafgerichtshofs ist nicht dadurch zu vermeiden, dass die Staatengemeinschaft Strafverfolgung gänzlich aufgibt, zudem nicht, wenn der Gerichtshof eng einbezogen wäre. Für eine breite Legitimität würde die Generalversammlung der Vereinten Nationen sorgen. Die Rechte der Beschuldigten würden dabei selbstverständlich beachtet. Die neuere Geschichte hat gezeigt: Strafjustiz kann geduldig sein, Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren können jahrelang auf Beschuldigte im Gerichtssaal warten. Hauptsache, die Verfahren können aktiviert werden. Genau dazu brauchen wir ein Tribunal. Rechtliches Neuland zu betreten, ist immer mit Risiken verbunden. Doch in diesem Fall sind sie überschaubar. Was in Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg unter deutlich unklareren rechtlichen Voraussetzungen gelang, schaffen wir auch im 21. Jahrhundert. Das Risiko, es nicht zu versuchen, ist viel höher. Nachfolgegenerationen werden andernfalls auf uns zurückblicken und fragen, warum wir tatenlos blieben. In diesem kriegsgezeichneten Jahr gelten wir Deutschen bei zu vielen Initiativen schon jetzt als passive Bedenkenträger. Das lässt unseren beachtlichen Beitrag bei der realen militärischen und finanziellen Hilfe für die Ukraine in den Augen der Weltgemeinschaft verzwergen. Die lang ersehnte Lieferung von Kampfpanzern an ukrainische Streitkräfte ist immer noch blockiert, beim Streit um die Lieferung einer Patriot- Flugabwehrbatterie an Polen stand Deutschland zuletzt in schlechtem Licht dar. Jetzt sollte Deutschland liefern, was wir wirklich können: Leadership im Bereich globale Gerechtigkeit und Strafverfolgung. Andere Länder wie Frankreich scheinen schon über ihren Schatten gesprungen zu sein und unterstützen die Gründung eines Sondertribunals, zur Überraschung staunender Beobachter. Deutschland darf die Führungsrolle nicht auch noch im Bereich der Justizverantwortung freiwillig aufgeben. Benjamin Ferencz, der ehemalige Chefankläger von Nürnberg, soll auch diesen Sieg der Justiz noch erleben dürfen.

Dr. Sergey Lagodinsky, Mitglied des Europäischen Parlaments

Anzeige

Deutsche Bahn, Holocaust, Aufarbeitung, Zug des Lebens, Vergangenheitsbewältigung, Shoah, Zeitzeugen

Anzeige

KKL, Keren Kayemeth Leisrael, Jüdischer Nationalfonds, KKL Frankfurt, KKL Deutschland, Testament, Israel

Anzeige


weitere Themen:

Europäischen Zentrums Jüdischer Gelehrsamkeit, Abraham Geiger Kolleg, Potsdam, Hartmut Bomhoff, Walter Homolka, Skandal, Missbrauch
Matthias Küntzel, perlentaucher, Jerusalemer Erklärung, Antisemitismus Definition, Anitsemitismusdefinition
Zsolt Balla, Konstantin Pal, Dr. Angelika Günzel, Marcus Ellermann, Brigadegeneral, Miliärrabbiner, Militärbundesrabbiner