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Im „Berlin Verlag“ ist ein sehr persönlicher Lyrikband von Michel Friedman erschienen. Mit „Fremd“ ist ihm ein ungewöhnlicher Seelenritt geglückt.
Prof. Dr. Dr. Michel Friedman „Fremd“, Berlin Verlag, 168 Seiten, Preis: 20,00 € [D], 20,60 € [A]
Michel Friedmans Kindheit und Jugend ist vom Überleben der Eltern überschattet. „Schmerz, der keinen Anfang kennt, der kein Ende kennt. Manchmal leise, manchmal laut“, schreibt er in seiner lyrischen Erinnerung. „Meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter: Über-Lebende. Trauernde. Traurige. Lebenstraurige“.
Die Eltern von Michel Friedman haben die Schoa dank Oskar Schindler überlebt, der ihre Namen auf die durch Steven Spielbergs Verfilmung weltberühmte Liste setzte während alle anderen Familienmitglieder in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden.
„Fremd“ ist ein wortgewaltiges Psychogramm, ein poetischer Blick in Michel Friedmans Seelenleben. Mit kraftvoll verdichteten Worten beschreibt er radikal und präzise die Wirklichkeit und die Auswirkung auf die Psyche der Generation der Nachgeborenen. „Angst ist mein Lebensgefährte“ beschreibt er das Lebensgefühl seiner Eltern und jahrzehntelang auch sein eigenes. Es ist Michel Friedmans ganz eigene persönliche Biographie, deren Erfahrung jedoch fast die gesamte Zweite Generation teilt. Und wenn er in seiner ihm eigenen prosaischen Gedichtform von diskriminierenden Behörden oder erlittenem psychischen Schmerz bei stetig neuen Formen von Ausgrenzung erzählt, so ist dies eine Erfahrung, die auch für viele Immigranten symptomatisch ist.
Als Staatenloser kam der in Paris geborene Autor, dessen Eltern Polnisch, Jiddisch und teilweise Französisch sprachen aber kein Wort Deutsch verstanden, mit zehn Jahren nach Deutschland. In der Schule erlernte er schnell die neue Sprache. Die Eltern begleitete er jährlich zur Ausländerbehörde, fungierte als Dolmetscher und musste vor jedem Behördengang seinen ängstlichen Vater und die zitternde Mutter beruhigen. Es ist das Kind, das seine Eltern beschützen will, vor Ausgrenzung, Rassismus und Judenhass. Im Dasein des Jungen schöpfen die Eltern neuen Lebensmut, in seiner Existenz entdecken sie einen Sinn überlebt zu haben. Für den kleinen Michel ist das belastend, erdrückend. Seinen Eltern permanent Halt geben zu müssen, zerrt an seinen Kräften. Für seine eigenen Ängste gibt es keinen Raum, er versteckt sie vor ihnen. Das Kind kommt immer wieder mit guten Nachrichten nach Hause, erzählt den Eltern schöne Geschichten, um sie in ihren trüben, morbiden Alltag aufzumuntern. „Das war eine totale Überforderung“ resümiert Michel Friedman im Rückblick, „denn das Kind schaffte es nie, die tiefe Traurigkeit der Eltern zu besiegen. In diesen vielen Jahren habe ich auch politisch erlebt, dass wir es nie geschafft haben, den Antisemitismus, den Judenhass wenigstens quantitativ etwas zu reduzieren“.
Dann endlich wird die Familie eingebürgert. „Kleines Kind, Großes Kind, Außenseiter-Kind, Einzelgänger-Kind, Will Dazugehören, Will mitmachen“.
Michel ist 19 Jahre alt. Doch garantiert ein Pass auch die Akzeptanz in der Gesellschaft? „Viele Fremde werden dadurch nicht mehr Fremde, nur weil sie viele Fremde sind“, resümiert der Autor. „Ich löse mich auf, bleibe trotzdem Fremder, ich gebe mich auf, bleibe trotzdem Fremder. Ich zerschmelze, bleibe trotzdem Fremder, Ich verbrenne, bleibe trotzdem Fremder. Ich gebe nach, bleibe trotzdem Fremder, ich schreie: „Bin kein Fremder!“, bin trotzdem Fremder“.
Wie fühlt es sich an fremd zu sein, ausgegrenzt zu sein? Friedman erzählt aus dem eigenen Leben, von dem eigenen Erleben, doch seine Erfahrungen lassen sich auch auf die Migrationsbewegung der Gegenwart übertragen. Heute lebt Prof. Dr. Dr. Michel Friedman als Publizist, Jurist und Philosoph in Deutschland, hält Vorlesungen, Vorträge; im Fernsehen oder in Theaterhäuser tritt er in Talkshows auf und engagiert sich politisch. Doch ist der einstige Präsident des Europäisch-Jüdischen Kongresses und ehemalige Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland wirklich in Deutschland angekommen? Als junger Mann hatte er sein Visum für New York zerrissen. Er entschied sich zu bleiben.
Er schreibt, „dass es Zukunft gibt, weil es Vergangenheit gibt, dass es Gegenwart gibt, weil es Vergangenheit und Zukunft gibt“. Und ermuntert dazu Grenzen zu überwinden, „das Unmögliche zu riskieren“.
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