Streitbar und unterhaltsam

Nachruf auf den Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki s. A.

Stimmgewaltig, mit großen Gesten, formulierte Marcel Reich-Ranicki stets seine Ansicht in der Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“. „Zweck der Sendung“, sagte er in einem Interview „war das Interesse für Literatur zu wecken“. Das war ihm gelungen. Nicht wenige Zuschauer gingen anschließend in die Buchläden, um gerade die von ihm vorgestellten Werke zu erwerben. Jetzt ist der Mann, der Millionen Lesern Literatur wieder interessant machte und den bundesdeutschen Literaturbetrieb jahrzehntelang entscheidend mitprägte, im Alter von 93 Jahren verstorben.

Marcel Reich-Ranicki s. A. mit seiner Frau Teofila s. A.
Marcel Reich-Ranicki s. A. mit seiner Frau Teofila s. A.                                                                                                  Foto: Rafael Herlich

Vielseitig war das Leben von Reich-Ranicki, der am 2. Juni 1920 in Włocławek, in Polen, geboren wurde und mit 9 Jahren gemeinsam mit seiner Familie nach Berlin zog. Hier ging er zur Schule, hier machte er sein Abitur. Studieren durfte er nicht, weil er Jude war. 1930 wurde er mit seiner Familie nach Polen ausgewiesen und 1940 in das Warschauer Ghetto zwangsumgesiedelt. Dort lernte er seine Frau Teofila kennen, mit der er bis zu ihrem Tod im Jahr 2011 glücklich verheiratet war. Im Ghetto wurde er Übersetzer bei den Deutschen, gleichzeitig war er aber auch Mitarbeiter des Ghetto-Untergrundarchivs und gehörte mit zur jüdischen Widerstandsorganisation. 1943 gelangen ihm und seiner Frau die Flucht aus dem Ghetto. Ein polnisches Ehepaar half ihnen sich zu verstecken. Sie überlebten den Holocaust im Gegensatz zu ihren Eltern und anderen Verwandten, die in Treblika ermordet worden waren. Nach dem Krieg ging er in den Dienst der kommunistischen Partei Polens als Leiter des Londoner Generalkonsulats nach Großbritannien. Ob er tatsächlich, wie später behauptet wurde, dort auch polnische Exilpolitiker denunzierte, bleibt unbewiesen. Er folgte dem Ruf zurück nach Polen und wurde degradiert. Gemeinsam mit Teofila verließ er dann Polen und ging nach Deutschland, wo ihn Heinrich Böll und Siegfried Lenz anfangs unterstützen. Von 1960 bis 1970 arbeitete er in der Literaturedaktion der „Zeit“. 1973 wechselte er zur „FAZ“ in Frankfurt und leitete bis 1988 die dortige Literaturredaktion. Bis dahin war Reich-Ranicki nur einem Fachpublikum als begnadeter Kritiker bekannt.

 

Das änderte sich, als er zum Fernsehsender „ZDF“ wechselte und Deutschlands bekanntester Literaturkritiker wurde. Damals war er bereits über 60 Jahre alt. Ihm gelang es , die Literaturkritik, mit ihren oftmals spröden Verrissen und langweilig vorgestellten Empfehlungen zu einer unterhaltsamen Show zu machen. Leidenschaftlich gestikulierend diskutierte er und schlug damit für die Streitkultur eine neue Bresche, so dass er bald als scharfzüngiger „Literaturpapst“ von Freunden wie Gegners hoch angesehen wurde. Seine Meinung über anspruchsvolle Literatur war geachtet wie gefürchtet.

 

Weitere Höhepunkte seines Schaffens war seine Autobiographie „Mein Leben“, die er als nunmehr fast 80-jähriger schrieb und die ein Bestseller wurde, sowie die Herausgabe eines literarischen „Kanons“ mit Empfehlungen guter Bücher mit der er Leser wie Autoren gleichermaßen inspirierte. Er hatte keine Angst vor einem Eklat, wenn er begründet war, wie beim „Deutschen Fernsehpreis“, den er 2008 verliehen bekommen sollte und den er vor laufender Kamera ablehnte. Die Reaktion darauf war eine lange Diskussion über die Qualität des deutschen Fernsehens und seiner Programme.

 

Ohne Marcel Reich-Ranicki ist nun die Literaturszene um eine zentrale Instanz ärmer, um einen großartigen und streitvollen Entertainer, dessen Leben die Literatur war. Manche Schriftsteller verdanken ihm ihre literarische Entdeckung. Mit ihm, so die ehemalige Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch, verlieren wir „auch ein Stück deutsch-jüdischer Geschichte“, eine „herausragende Persönlichkeit, die in erheblichem Maße zur Versöhnung und zum gegenseitigen Verständnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen beigetragen hat“.

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