IN DER MITTE EUROPAS

JÜDISCHES LEBEN IN BRÜSSEL

Längst schon ist Brüssel Europas heimliche Hauptstadt. Menschen aus der ganzen Welt arbeiten hier. So vielfältig wie die Bevölkerungsschicht, sind auch die jüdischen Gemeinden Belgiens. Antwerpen gilt als größte chassidische Gemeinde weltweit, viele orthodoxe und ultraorthodoxe Juden leben hier, Belzer, Lubawitscher, Satmaer, Gerer, Tshorkower, Vishnitzer und andere, aber auch Anhänger der Neoorthodoxie und Konservative. Doch die Gemeinden schrumpfen zusehends. Offener Antisemitismus und die Veränderung im Diamantengeschäft, das immer mehr von indischen und russischen Geschäftsleuten bestimmt wird, führen zu einer grossen jüdischen Abwanderung. auch die kleinen Gemeinden in Gent, Arlon, Liège, Mons, Ostende und Charleroi wachsen kaum noch. In Brüssel jedoch ist es anders.

Von den 40.000 Juden, die in Belgien leben, wohnen offiziell 15.000 in Brüssel. Doch diese Zahl stimmt nicht. Weitaus mehr Juden leben in der belgischen Hauptstadt, aber längst nicht alle sind Mitglieder einer Gemeinde. Sie kommen nur sporadisch nach Brüssel. Die meisten von ihnen sind in der EU beschäftigt, im Finanzsektor oder in Wirtschaftsunternehmen. In den Synagogen treffen sie dann die einheimischen Juden, sie beten zusammen, feiern gemeinsam Kabbalat Schabbat und die Feiertage, bleiben aber ihrer Heimatgemeinde treu und treten nicht der jüdischen Gemeinde in Brüssel bei.

 

Insgesamt gibt es 12 Synagogen in Brüssel, von denen die bedeutendste die „Grande Synagogue“ in der Rue de la Régence steht. Majestätisch ist sie bereits von weitem sichtbar. Mitten auf einer Hauptstraße befindet sich das 1878 erbaute G’tteshaus, ein steinernes Zeugnis einer selbstbewussten und in der belgischen Gesellschaft anerkannten jüdischen Gemeinde. Prachtvoll ausgestattet ist es im Innern. Einst war es das Zentrum einer reformierten liberalen Gemeinde, die Anhänger der Reformideen Moses Mendelssohns waren. Heute bezeichnen sich die Beter fast durchweg zur konservativen Richtung zugehörig. Es sind Aschkenasim, Oberrabbiner Albert Guigui, der auch als Sprecher der „Orthodoxen Rab- binerkonferenz Europas“ fungiert, ist zwar Sefarde, führt den G’ttesdienst jedoch nach aschkenasischem Ritus durch. Es gibt in Brüssel aber auch eine sefardische Gemeinde mit einer eigenen Synagoge. Der Kantor der „Großen Synagoge“ ist ein Sohn des bekannten Antwerpener Kantors Benjamin Müller.

 

„Europäische Rabbinerkonferenz“ gegen „European Rabbinical Center“

Ein Höhepunkt in der Geschichte der Brüsseler Hauptsynagoge war der 4. Juni 2008. Damals wurde der Versuch unternommen, dieses G’tteshaus zur zentralen Synagoge ganz Europas auszurufen. Es war eine Initiative der Europäischen Rabbinerkonferenz unter maßgeblicher Beteiligung von Oberrabbiner Guigui und seinem Londoner Amtskollegen Oberrabbiner Jonathan Sacks. Zahlreiche belgische Honoratioren, unter ihnen auch Kardinal Godfried Danneels und der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso, waren bei der Zeremonie anwesend. Hintergrund dieses voreiligen Handelns war ein Streit um die Anerkennung als exklusiver Ansprechpartner für die Europäische Kommission gegen den Konkurrenten „Rabbinical Center of Europe“, der seinen Sitz ebenfalls in Brüssel hat und enge Beziehung zur weltweiten Bewegung Chabad Lubawitsch unterhält. Die Idee eine europäische „Hauptsynagoge“ zu etablieren hat sich nicht durchgesetzt.

 

Erstmal sitzt ein belgischer König in der Synagoge

Ein für die belgischen Juden weitaus wichtigeres Ereignis war die Anwesenheit des belgischen Königs in der Synagoge. „Ein Ereignis, das zum ersten Mal in der Geschichte Belgiens stattfand“ betont Prof. Dr. Julien Baron Klener, Präsident des „Consistoire Central Israélite de Belgique“. Als Napoleon per Dekret 1808 in Frankreich das Consistoire einführte, war dies auch in Brüssel die Geburt des Konsistoriums. Nach dem Vorbild der protestantischen Kirche sollten auch die Juden ihre inneren Angelegenheiten, die den Glauben betreffen, in dieser Organisation selber regeln, andererseits hatte das Consistoire aber auch die Aufgabe zentraler Ansprechpartner für die Regierung zu sein. Auch in Brüssel war das „Consistoire Central Israélite de Belgique“ anfangs eng mit der liberalen Reformidee verbunden. Spuren wie der Aufgang zum Chor und eine Orgel sind noch in der „Großen Synagoge“ zu finden. Heute jedoch besteht das Gremium des Consistoires aus Anhängern des orthodoxen und konservativen belgischen Judentums. Seit seiner Gründung ist es eine offizielle Vertretung der Juden gegenüber dem Staat sowie ein Verwaltungszentrum, das sich vorwiegend um religiöse Belange kümmert. Es ist jedoch kein jüdischer Zentralrat, sondern eine halbstaatliche Institution. Sämtliche Ernennungen müssen vom Königshaus wie der Regierung bestätigt werden, genauso wie die Anstellung des Rabbiners. Dafür finanziert der Staat einen Teil des Rabbinergehaltes und unterstützt die bauliche Erhaltung der Synagoge.

 

König adelte einen Juden 

Seit 2000 ist Prof. Dr. Julien Baron Klener Präsident des Consistoires, ein Sprachwissenschaftler, dessen Spezialgebiet alttestamentarische und afrikanische Sprachen sind sowie Indonesisch. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er an der Genter Universität und hält heute noch in Leuwen, Antwerpen und Brüssel Gastvorlesungen. Vor einigen Jahren wurde er vom belgischen König geadelt, eine große Anerkennung seiner persönlichen Leistungen, aber auch eine Ehrung für die gesamte jüdische Gemeinschaft Belgiens. Das Büro des Consistoire befindet sich direkt neben der Synagoge, deren Nebenräume für Sitzungen und Debatten genutzt werden. Hier berät sich Baron Klener mit dem Vorstand, wenn das Consistoire zu politischen Geschehnissen Stellung nehmen soll und zu Gesprächen mit der Regierung über jüdische Angelegenheiten gebeten wird. Betrifft dies die gesamte jüdische Gemeinschaft, sind auch die beiden anderen Dachorganisationen, das flämische „Forum Joodse Organisaties“ und die Vertretung der französisch sprechenden Juden „Comité de Coordinations des Organisations Juives de Belgique“ dabei. Fast immer geht es um Angelegenheiten im religiösen oder kulturellen Bereich.

 

Neues Konzept will Holocaust nicht mehr in den Mittelpunkt stellen 

100.000 Juden lebten 1935 in Belgien. 26.000 wurden von der deutschen Besatzung deportiert, fast alle nach Auschwitz. Vielen belgischen Juden gelang die Flucht, andere konnten sich bei nichtjüdischen Belgiern verstecken. Deren Hilfsbereitschaft war groß. Unter den so Geretteten war auch der 1939 in Ostende geborene kleine Julien, der in Brüssel überlebte.

 

Wenn demnächst das NS-Transitlager Mechelen, das bisher Mahn- und Erinnerungsstätte war, umgebaut und ein neues Konzept erhalten soll, das auch Seminare und Lesungen über gegenwärtige Menschenrechtsverletzungen vorsieht, meldet sich auch Baron Klener zu Wort: „Man muss sehr genau darauf achten, dass der Einzigartigkeit der Verbrechen der Schoa historisch kein Abbruch getan wird“, mahnt er, „ihre besondere Grausamkeit darf nicht verwässert werden“. Juden aus der ganzen Welt protestieren. Zwar ging die Initiative für eine museale Aufbereitung des Transitlagers Mechelen von Juden aus, doch das Museum wurde von Anfang an von der flämischen Regierung finanziert, die nun darauf pocht, hier auch über die inhaltliche Ausrichtung bestimmen zu können.

 

Anders verhält es sich dagegen mit dem „Jüdischen Museum Belgien“. Im historischen Viertel in der Rue des Minimes, unweit der Synagoge, stellte der Staat für 99 Jahre lediglich das Gebäude zur Verfügung. Hochinteressant ist der Gang durch das Museum, dessen Schwerpunkt jüdisches Leben seit 1832 ist, jenem Jahr, als Belgien ein unabhängiger Staat wurde. Doch auch Objekte aus der Zeit davor sind ausgestellt. Gut gelungen ist die Darstellung der verschiedenen auseinanderdriftenden Entwicklungen. Während die Mehrheit in Brüssel mehr laizistisch eingestellte Juden sind, entwickelte sich in Antwerpen vorwiegend eine fromme Ausrichtung. In der Ausstellung ist eine „Schil“, eine kleine Synagoge zu sehen, die 1946 im Innern eines Wohnhauses in Molenbeck errichtet und 2003 geschlossen wurde. So wird ein intimer Blick in eine tiefe, ganz persönliche Religiosität jüdischer Menschen ermöglicht.

 

Neben zahlreichen Judaica-Objekten aschkenasischer Juden erzählen Kleidungstücke, wie eine Hochzeitstracht oder mehrere Kippot vom sefardischen und andere vom chassidischen Leben in Belgien. Das Besondere dieses Museums ist eine umfangreiche Sammlung früherer Schelllackplatten und moderner CD’s mit jüdischen Gesängen, eine Foto- und Diathek mit über 20.000 Aufnahmen über das jüdische Leben in Belgien und eine Präsentation jüdischen Lebens im Kongo, das belgische Rabbiner betreuten. Zur Abteilung Schoa gehört eine Übersicht über Juden in der Résistance. Erhalten geblieben sind 212 Ordner mit Namen und Anschriften aller in Belgien lebenden jüdischen Einwohner während der sechs Volkszählungen seit 1756 und das Register mit Namen von 5.000 jüdischen Flüchtlingen, darunter viele polnische Juden, die sich nach dem Krieg in Belgien niederlassen durften. Die umfangreiche Bibliothek besitzt 25.000 Publikationen zu jüdischen Themen. Angeschlossen an das Museum ist eine Galerie, in der Wechselausstellungen Arbeiten moderner jüdischer Künstler aus der ganzen Welt zeigen. 4.000 Quadratmeter Fläche hat das Museum. „Für uns handelt es sich um viel mehr, als nur um einen Ausstellungsort, es ist auch ein jüdisches Kulturzentrum“, betont Prof. G. Baron Schnek, jetziger Präsident des Stiftungsrates des Jüdischen Museums und Vizepräsident des Institutes für Jüdische Studien der Universität Brüssel. 1982 hatte er die Leitung des Consistoire von seinem Vorgänger Baron Bloch übernommen und ist damit ein Vorgänger von Baron Klener, der die enge Verbindung des Konsistoriums zum Jüdischen Museum beibehält. „Insgesamt wurden seit dem Krieg neun jüdische Persönlichkeiten vom König geadelt“, erzählt Baron Klener.

Philippe Markiewicz: „Die Zeit des Ghettos ist vorbei“ 

Reichhaltig ist das jüdische Leben in Brüssel, doch sind viele Einrichtungen in der Obhut privater Stiftungen, über die weder das Konsistorium, noch die jüdische Gemeinde Einfluss haben. Dazu zählen das jüdische Altersheim, jüdische Kindergärten und drei jüdische Schulen. „Alle Institutionen sind unabhängig“, berichtet Philippe Markiewicz, „haben aber einen guten Kontakt zu uns“. Rechtsanwalt Markiewicz ist der jetzige Präsident der jüdischen Gemeinde von Brüssel und arbeitet eng mit dem Konsistorium zusammen, vor allem bei Angelegenheiten, die die „Große Synagoge“ betreffen. „Die Zeit des Ghettos ist vorbei“, betont er und gibt sich große Mühe, auch mit der nichtjüdischen Umwelt ins Gespräch zu kommen. Jedes Jahr öffnet die Synagoge am belgischen Nationalfeiertag ihre Tür. Dann kommen über hundert Besucher, freut sich Hausherr Markiewicz. Die Jüdische Gemeinde ist auch für die Auswahl des amtierenden Rabbiners zuständig, der ebenso einen Teil seines Gehaltes von ihr bezieht, wie auch der Kantor. „Jeden Tag gibt es bei uns 2-3 G’ttesdienste“, freut sich Markiewicz über das aktive religiöse Leben. Vielfältig sind die Kontakte zu anderen Gemeinden, wie mit der von Liège und Antwerpen. Markiewicz war mehrere Jahre auch Vorsitzender von B’nai B’rith Belgien und zwei Perioden lang Präsident des Comité de Coordination des Organisations Juive de Belgique (CCOJB).

 

Heute ist der Arzt Maurice Sosnowski Präsident des CCOJB und vertritt Belgien im Europäisch-Jüdischen Congress. Der Dachverband CCOJB ist vor allem die politische Vertretung der belgischen Juden und steht damit in Konkurrenz zum Konsistorium. Der Kampf gegen Antisemitismus ist ein wichtiges Programmteil. 1989 wurde von einem radikalen Palästinenser der damalige Präsident des CCOJB ermordet und auch heute verunstalten wieder antisemitische Parolen Häuser und öffentliche Gebäude. Dennoch freuen sich Sosnowski und Markiewicz über die gegenwärtig guten Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt, und hoffen diese weiter ausbauen zu können.