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JUGENDKONGRESS 2015 IN BERLIN

ERNSTHAFTE GESPRÄCHSRUNDEN UND PARTYTIME

Noch nie nahmen so viele jüdische Jugendliche an einem Jugendkongress teil. Sie kamen nicht nur aus den großen, sondern auch aus mittleren und den kleineren jüdischen Gemeinden.

Für die jüdische Gemeinschaft in der Diaspora, so auch für die in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen, wird Israel immer einen besonderen Stellenwert haben. Vor 50 Jahren, im Mai 1965, begann die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem jüdischen Staat. Dieses Jubiläum stellten die ZWST und der Zentralrat der Juden in Deutschland als Motto in den Mittelpunkt des diesjährigen Jugendkongresses, der in Berlin stattfand. Viele hochrangige Redner wurden eingeladen, Politiker, ehemalige Generäle und Journalisten.

 

Mehr als 400 junge Juden und Jüdinnen im Alter von 18-35 Jahren kamen aus ganz Deutschland nach Berlin. „Ich möchte Hintergrundinformationen für meine Arbeit als Gruppenleiterin im Jugendzentrum erhalten“, sagt Lea aus Düsseldorf. Claus und Henning aus Hamburg sind an den politischen Diskussionen interessiert und Michael Gutman, der in Rostock studiert, wünscht sich die Beleuchtung aktueller politischer Themen aus verschiedenen Perspektiven. „Außerdem“, sagt er, „treffe ich hier junge Leute in meinem Alter“. 18 Jahre alt ist Michal aus Lübeck. „In unserer Gemeinde gibt es kein Jugendzentrum“ sagt die junge Frau, die nun zum ersten Mal an einem Jugendtreffen der ZWST teilnimmt. Sie möchte andere junge jüdische Menschen kennenlernen. Viktoria und Darina haben sich schon im Vorfeld mit ihren Freunden verabredet, die sie bei einem früheren Jugendtreffen getroffen hatten und Leonid aus Hannover hofft, dass der Kontakt diesmal nicht wieder abbricht und er über Facebook und Twitter die neuen Freundschaften auch weiterhin vertiefen kann.

 

Es hatte sich herum gesprochen, die jährliche Tagung für junge jüdische Erwachsene bietet einerseits auf hohem Niveau interessante Vorträge zu aktuellen politischen Themen, sowie lebhafte Gesprächsrunden und Workshops und ist zugleich auch eine großartige Gelegenheit andere junge Juden zu treffen, Freundschaften zu schließen und vielleicht auch hier den Partner fürs Leben zu finden. So viele Teilnehmer wie diesmal waren noch nie zusammen gekommen. Sie reisten nicht nur aus den größeren jüdischen Gemeinden an, sondern kamen auch von den kleinen und ganz kleinen. „Nutzt die Gelegenheit, stellt Fragen“ fordert Zentralratsvizepräsident Ebi Lehrer, der zugleich Vorstandsvorsitzender der ZWST ist, die jungen jüdischen Erwachsenen auf. Und das taten sie auch. Konzentriert hörten sie den Vorträgen zu und diskutierten in den Pausen dann heftig weiter, miteinander wie mit den Referenten.

Nichtjuden sind erschrocken – Berliner Senat will Schutz jüdischer Einrichtungen verstärken
Der Jugendkongress fand unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen statt. Die Attentate von Paris, Toulouse und Brüssel warfen ihre Schatten auch auf Berlin. Auch in Deutschland hat sich die Anzahl antisemitischer Straftaten verstärkt. Zentralratspräsident Josef Schuster empfahl besorgt den Juden in überwiegend von Muslimen bewohnten Vierteln auf der Straße nicht offen ihre Kippa zu tragen, sondern sie lieber unter einer anderen Kopfbedeckung zu verbergen. Das erschreckte zahlreiche nichtjüdische Journalisten. Hatten sie den Angriff auf Rabbiner Alter vor gar nicht allzu langer Zeit vergessen? Die „Berliner Morgenpost“ setzte das Kippa-Thema sogar auf die erste Seite und interviewte nicht nur den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeine zu Berlin Gideon Joffe, der zusätzlich von einer Bedrohung in Vierteln mit Bewohnern rechten Gedankengutes warnte, sondern auch Mitglieder des Berliner Senats. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller meinte zwar, „in Berlin gibt es keine Stadtteile, wo man sich nicht frei bewegen kann“. Anders dagegen Berlins Innensenator Frank Henkel. „Die Vorstellung, dass Menschen jüdischen Glaubens aus Angst ihre Kippa verstecken könnten, ist beklemmend“ sagte er und gab zu, dass allein in Berlin etwa 190 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund bekannt sind, die zwischen 2013 und 2014 verübt wurden. Er versicherte, dass die Sicherheitsbehörden jetzt verstärkt weitere jüdische Einrichtungen wie zum Beispiel nun auch das „Centrum Judaicum“ „schützen und stärken“ werden.


In den Räumen des Berliner Leonard Royal Hotel, in dem der Jugendkongress stattfand, waren viele junge Männer mit ihren Kippot zu sehen. Ein Teilnehmer, der aus Frankfurt kam, hatte eine besonders auffällige. Mit einer gestickten farbenfrohen Erdbeere will er seine Mitmenschen mahnen, auch auf den Schutz der Natur zu achten, etwas, wie er findet, typisch jüdisches, das bereits in der Tora verankert ist. „Hier, wo wir unter uns sind, kann ich diese Kippa tragen, auf der Straße verstecke ich sie immer unter einer Baseballkappe“, sagt er.

 

In seiner Rede wies Zentralratspräsident Schuster auf die enge partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Israel hin, die sich in den letzten fünfzig Jahren seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen herausgebildet hat. Dennoch lehnt jeder zweite Deutsche Israel ab, während 68 Prozent der Israelis eine gute Meinung von Deutschland haben und auf politische Unterstützung im Nahostkonflikt hoffen. „Woher kommt die Ablehnung, die sich in den jüngsten Meinungsumfragen widerspiegelt?“, fragt Schuster und sieht eine allzu einseitige Berichterstattung in der Presse als eine der Ursachen aber auch die Schlussstrichmentalität vieler Deutschen. Vor allem aber ist es „Unwissenheit“, meint Schuster. „Vermeindliche Gutmenschen rufen zum Boykott israelischer Waren auf“ kritisiert er und stellen sogar „das Existenzrecht Israels in Frage“. Oft unwissend werden Shoaopfer verhöhnt, wenn zum Beispiel Tierschützer Slogans wie „Hühnerholocaust“ gebrauchen oder andere vom Genozid im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Politik Israels reden. „Die Argumentation zu durchbrechen ist sicherlich nicht leicht. Dafür braucht man Know how der israelischen Geschichte und der heutigen politischen Lage“. Und genau diese erhielten die jungen Juden auf dem Kongress. Antisemitismus ist nicht nur ein Problem der Angegriffenen, „sondern der gesamten Gesellschaft“, kritisierte Israels Botschafter in Deutschland Hadas-Handelsman. „Wer sagt schon gerne: Ich bin Antisemit. Viel besser ist es doch zu sagen, ich bin Israelkritiker“. An die Anwesenden gerichtet, appellierte er, „die israelisch-deutschen Beziehungen mitzugestalten“.

 

Der Handel mit Israel sichert viele Arbeitsplätze in Deuschland“
Detailreich war bereits am ersten Abend der Gastvortrag von Hildegard Müller, der Präsidentin der Deutsch-Israelischen Wirtschaftsvereinigung und Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie-  und Wasserwirtschaft. Die Partnerschaft zwischen den beiden Ländern ist „in beiderseitigem Interesse“, betonte sie. Deutschland ist Israels wichtigster europäischer Handelspartner und steht weltweit an dritter Stelle. „Made in Germany“ ist in Israel ein Gütesiegel von hoher Qualität. Für Volkswagen ist Israel ein wichtiger Absatzmarkt, gefolgt von Mercedes und BMW. Im anschließenden Gespräch, an dem auch der Geschäftsführer der Israelisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer Grisha Alroi-Arloser teilnahm, wurde nochmals auf das bilaterale Handelsvolumen hingewiesen, während Israel ein Drittel der Waren nach Deutschland exportiert, werden zwei Drittel aus Deutschland importiert. Waren aus den Bereichen Elektroenergie, Medizin, Umweltschutz, Container sowie Technologietransfer sind besonders gefragt, während Israel vor allem Produkte aus der IT-Branche liefert. Auch sichert der Handel mit Israel tausende deutsche Arbeitsplätze. Eine Tatsache, die viel zu wenig in der deutschen Bevölkerung bekannt ist. Über finanzielle Beteiligung oder den Kauf vor allem ehemaliger ostdeutscher Unternehmen entstanden sogar größere Unternehmen als vor der Wende. So übernahm beispielsweise die Federmann-Gruppe aus Tel Aviv die Produktion von Galliumarsenid in Freiburg und machte die Wafer-Fabrik FCM zum Weltmarktführer. Der verstorbene Michael Federmann s. A. stammte aus Chemnitz, wo ihn die Nationalsozialisten 1938 vertrieben. Dem DDR-Unternehmen „VEB Spurenmetalle“, das Mikroelektronik herstellte, drohte in der Wendezeit die Schließung des Betriebes. Heute werden dort wieder Super-Halbleiter hergestellt. Federmann stellte neue Beschäftigte an, so dass die Zahl von 75 auf heute 265 stieg. Auch wird in Freiburg an der Fertigung weiterer Halbleiter geforscht, Galliumnitrid soll Elektronik noch leistungsfähiger machen und die Energiewende beflügeln. Heute leitet sein Sohn das Unternehmen. „Deutschland und Israel ist nicht Vergangenheit, sondern Zukunft“, betonen Hildegard Müller und Grisha Alroi-Arloser auf dem Jugendkongress gemeinsam.

 

Diskussion mit Verfassungsschützer Maaßen über die Sicherheit jüdischer Einrichtungen
Auch die Ausführungen des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Dr. Hans-Georg Maaßen, der über „Extremismus, Militanz und Gewalt“ als Gefahren für die Innere Sicherheit sprach, fanden reges Interesse der Teilnehmer. Es gebe zwar keine konkreten Hinweise auf Anschläge auf jüdische Einrichtungen, sagte er, jedoch eine hohe abstrakte Gefahr, die durch Propaganda und Desinformation im Internet noch verstärkt wird. Hier sieht er die Bedrohung vor allem vom islamistischen Terrorismus ausgehend, gab aber dann doch noch zu, auch eine zunehmende Gewaltbereitschaft der Rechtsextremisten wie aus dem linken Lager zu erkennen. Das war einigen Teilnehmer zu wenig und eine breite Diskussion begann. Daniel Neumann vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen warf dem Verfassungsschutz Versagen bei der Aufklärung der NS-Morde zu und gab zu bedenken, dass viele Juden in Deutschland sich ebenfalls nicht wirklich geschützt fühlen. „Können wir Ihnen wirklich vertrauen, dass Sie in der Lage sind, unsere Sicherheit zu gewährleisten?“ fragte ein junger Teilnehmer während Dennis aus Berlin wissen wollte, ob von den nach Deutschland kommenden muslimischen Immigranten eine Gefahr für die jüdische Bevölkerung ausgehe. In Frankfurt lebende Tscherkessen setzen sich nicht nur für ihre eigene Freiheit ein, sondern kämpften in der Vergangenheit bereits Seite an Seite mit Islamisten gegen Israel. Verfassungsschützer Maaßen wiegelt ab, gewiss habe es, vor allem in der NSU-Affäre „Fehler einzelner Mitarbeiter gegeben“, doch diese könne man nicht der gesamten Behörde anlasten. Rechtsanwalt Juri Goldstein, Stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Thüringen und mit seinen 32 Jahren der Jüngste im Vorstand, der sich um das Jugendleben in der Erfurter Gemeinde kümmert, bemängelt die oftmals schlechte Zusammenarbeit der Verfassungsschützer und des Landeskriminalamtes, die Informationen zeitverzögert oder gar nicht an die Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde weitergeben. „Warum warnt man uns nicht rechtzeitig“, fragt er und nutzt die Gelegenheit auch dieses Thema anzuschneiden.

 

„Wir packen unsere Koffer nur, um in den Urlaub zu fahren“
Am letzten Tag sitzen auf dem Podium Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrates der Juden in Deutschland, Jonathan Heuberger, Völkerrechtsberater im israelischen Justizministerium, Jennifer Marställer, Direktorin der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, Aron Schuster, stellvertretender Direktor der ZWST, Alexander Sperling, Geschäftsführer der Kölner Synagogen-Gemeinde und Vika Kinar, Ceo GreekChicTLV. Unter der Moderation von Grisha Alroi-Arloser diskutierten sie über die Zukunft. Wird es noch in 20 Jahren in Deutschland eine jüdische Gemeinschaft geben? Wir bleiben hier, war die einhellige Meinung aller Teilnehmer, wir lassen uns weder von den Islamisten, noch von den Antisemiten vertreiben. Aron Schuster bekräftigte dieses Vorhaben, „wir gehören zu Deutschland wie jeder andere Bürger auch. Wir packen unsere Koffer nur, um in den Urlaub zu fahren.“ Daniel Botmann appellierte an die Anwesenden, aktiv in den Gemeinden mitzuarbeiten, „jeder Einzelne von uns sollte versuchen, das jüdische Leben noch besser zu machen, damit es noch attraktiver wird“. Eine Herausforderung an die Zukunft sind die nichtjüdischen Ehepartner und die aus einer solchen Verbindung stammenden Kinder. In allen Gemeinden Europas macht man sich zur Zeit Gedanken über diese Vaterjuden, die zwar jüdisch erzogen werden können, dann jedoch von offizieller Seite allzu oft abgewiesen werden und zum Beispiel nicht zu einem Machane mitfahren dürfen. Nur ein geringer Teil entscheidet sich für den Giur, allzu oft verlässt dann die gesamte Familie die Gemeinde. „Das ist ein echtes Problem“, sagt Alexander Sperling und schlägt vor, auch diese Problematik im nächsten Jahr aufzugreifen.

 

Zahlreiche Workshops und Vorträge waren angeboten worden mit hochkarätigen Referenten. Die hohen Erwartungen der jungen Teilnehmer sind nicht enttäuscht worden. „Wir sind sehr glücklich über die positive Resonanz der jungen Erwachsenen“ betonte Abi Lehrer in seinem Schlusswort. Das Interesse und der Teilnehmerrekord zeigen wieder einmal, wie wichtig es ist, in die Zukunft des Judentums in Deutschland zu investieren. 

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