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EIN PLÄDOYER FÜR DIE STREITKULTUR UND SOZIALE VERANTWORTUNG

Prof. Dr. Dr. Michel Friedman und Prof. Dr. Harald Welzers Gedanken über die Bedrohung unserer Demokratie.

Dr. Michel Friedman, Michel Friedman, CAES, Center for Applied European Studies, Frankfurt University of Applied Sciences, Harald Welzer, Prof. Dr. Harald Welzer, Zeitenwende

Die größte Gefahr für die Demokratie ist die wachsende Gleichgültig­keit, warnt Prof. Dr. Dr. Michel Friedman. Foto Alexander Beygang

Es ist gut, dass dieses Buch gerade jetzt erschienen ist. Aktuell – gegenwärtig – als Gegenentwurf der rechten Meinungsmacher, den selbsternannten Gutmenschen – als Gedankenstütze gegen die Unsicherheiten unserer Zeit. In verständlicher und eingänglicher Sprache ermutigt „Zeitenwende“ von Prof. Dr. Dr. Michel Friedman und Prof. Dr. Harald Welzer vor allem zu einem – Haltung zu zeigen, einzustehen, für den Erhalt einer wachen und wehrhaften Demokratie. In gewisser Weise ist schon die ungewöhnliche Erzählform dieses Sachbuches ein Statement. Zwei medien­erfahrene Wissenschaftler bringen ihren Dialog zu Papier. Zuhören – diskutieren und Antworten finden. Also quasi ein Widerhall auf die zunehmende Verbohrtheit, dass sich Verweigern auf Argumente des anderen einzugehen, nur darauf aus zu sein, die eigene fest stehende Meinung sich bestätigen zu lassen.

 

Es sind Gedanken über viele Problemfelder unserer Zeit, unter anderem über Alltags-Antisemitismus, menschenunwürdige Behandlung von Saisonarbeitern, Naturschutz, Klimawandel, Veränderung in der politischen Kultur Europas und vieles mehr.

 

Wir befinden uns in einer Zeitenwende. Wie ein Katalysator wirkt die Corona-Pandemie und zeigt die konkrete Bedrohung unserer heutigen Demokratie durch die Renaissance des Nationalismus in vielen Ländern Europas, durch irrsinnige Verschwörungstheorien, verstärkt auftretenden Antisemitismus und Rassismus, der auch vor Gewalt nicht mehr zurück schreckt. Die Autoren bemängeln das Fehlen politischer Visionen und den Verlust der Zivilcourage. „Es ist wichtiger, dass ein Auto in die Waschanlage kommt, als dass die Demokratie verteidigt wird“, überspitzt Harald Welzer treffsicher den heutigen Zustand in breiten Teilen unserer Zivilgesellschaft, während Michel Friedman schreibt: „Die Gefahr für die Demokratie ist, dass die Menschen Angst haben, sich zu engagieren, Konflikte zu erleben und zu ertragen. Eine noch größere Gefahr aber ist, dass es bei vielen die Gleichgültigkeit ist, die die Menschen hindert, sich für Freiheitsrechte zu engagieren oder dort, wo sie gefährdet sind, zu intervenieren“. Die Ambivalenz der „schweigenden Mehrheit“, so Friedman, „ist ein Kernproblem. Herr Doktor Gauland, Herr Professor Meuthen, Herr Oberstudienrat Höcke kommen aus dieser Mehrheit. Andererseits sind es hunderttausende aus dieser Mitte, die bei Demonstrationen gegen Rassismus auf die Straße gehen. Andererseits sind es wiederum Millionen aus dieser Mitte, die die AfD wählen. Andererseits sind es wiederum Hunderttausende aus dieser Mitte, die Flüchtlinge aktiv unterstützen. Andererseits sind es viele, die zu alledem überhaupt keine Meinung haben. Das alles zeigt, dass es diese eine Mitte gar nicht gibt, sondern dass es viele Mitten gibt. Auf welche dieser Mitten man sich allerdings verlassen kann, ist schwer vorherzusagen“.

Buch „Zeitenwende – Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde“, Michel Friedman und Harald Welzer, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, Preis: 22,00 € [D], 22,70 € [A]

Beide warnen vor einer Erosion der Errungenschaften der Demokratie, die von Vielen allzu selbstverständlich genommen werden. Das lediglich ritualisierte Beschwören demokratischer Werte zeigt fatale Folgen, bemängeln beide und diskutieren, wie man sich den Angriffen auf Demokratie und Menschenwürde konkret entgegensetzen kann. „Kann es sein, dass wir die Gegner der Demokratie nicht ernst genommen haben, weil es bedeutet hätte, sich anzustrengen, sich selbst zu hinterfragen?“

 

So beginnt das Werk auch mit einer Analyse der Schulpolitik und der Befürchtung, dass bedingt durch die Coronakrise eine bereits drohende gesellschaftliche Spaltung zwischen arm und reich sich besonders in den Schulklassen abzeichnet. Wenn Eltern ihren Sprösslingen technische Hilfsmittel zur Verfügung stellen, damit sie mit dem digitalen Wandel im Unterricht schritt halten können oder dadurch digitale Nachhilfe ermöglicht wird, sozialschwache Familien jedoch sich das nicht leisten können, ist dies eine gesellschaftlich höchst brisante Entwicklung. Auffällig ist, dass vorwiegend Verlierer der Gesellschaft leichter anfällig für radikales Gedankengut sind.

 

Neben den politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften befassen sich die Autoren auch mit den Gefahren der Digitalisierung, die im großen Stil von Rechtsextremisten zur Verbreitung ihrer hasserfüllten Gedanken missbraucht wird und zum Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz gegen Andersdenkende aufstachelt. Wir müssen konstatieren, dass die Strategie der Rechtsextremen immer häufiger aufgeht, die steigende Zahl antisemitischer Gewalt in ganz Europa belegt das – in Wien, Paris, Hamburg, Halle und Hanau. „Demokratie“ bedeutet „die Wahl haben, Streiten, Kompromisse finden. Das ist anstrengend. Aber es gibt keine gute Alternative“.

Alexander Beygang

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