• „Consistoire“-Präsident Dr. Joël Mergui, will keine Zusammenarbeit mit dem CRIF.

  • Einst das Restaurant „Goldenberg“, heute eine Modeboutique. Viele Juden zieht es fort.

  • Statt Beter besuchen zunehmend mehr Touristen die Synagoge „Agoudas Hakehilot“.

  • Souvenirs statt koscher Food: auch Feinkostladen „Finkelsztajn“ hat sich umgestellt.

Juden fliehen vor dem Hass

So gibt es in Frankreich jetzt zwei konkurrierende jüdische Dachverbände und das in einer Zeit enormer Herausforderungen. Von den 65 Millionen Menschen, die in Frankreich leben, sind 606.501 jüdisch. Damit ist Frankreich das Land mit der zahlenmäßig größten jüdischen Bevölkerung Europas. Doch die Anzahl verringert sich zusehends. 3.120 französische Juden wanderten im vergangenen Jahr nach Israel aus. Das sind nach Angabe der Jewish Agency 63 Prozent mehr als im Vorjahr. Dr. Roger Cukierman versucht abzuwiegeln, nicht der steigende Antisemitismus sei die Ursache, sondern die schlechte Wirtschaftslage in Frankreich. Dabei nahm die Zahl antisemitisch motivierter Taten, im Jahr 2012 um 58 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Nach einer Umfrage erwägen gegenwärtig etwa 46 Prozent der in Frankreich lebenden Juden ebenfalls die Aliya. Laut einer Untersuchung der Wiener „EU-Agentur für Grundrechte (FRA)“ haben 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung Angst vor verbalen und sogar tätlichen Angriffen. „Man kann nicht einen Polizisten oder Stacheldraht vor jeder Synagoge, jede koschere Fleischerei stellen“, versucht der CRIF die Situation herunter zu spielen.

 

Mittlerweile gibt es in Israel eine beachtliche Anzahl neuer Einwanderer aus Frankreich. Einer der bekanntesten Olim ist Pierre Besnainou, der ehemalige Präsident des „Jüdischen Sozialfonds“, der seinen Sitz im gleichen Gebäude wie der CRIF hat. Neuer Präsident wurde in diesem Jahr sein ehemaliger Stellvertreter Ariel Goldmann.

 

Eine Außenstelle des Consistoire in Israel

„Wir haben die Pflicht, denjenigen zu helfen, die gehen wollen“, sagte Joël Mergui bei seinem Besuch in Jerusalem und versprach gleichzeitig, alles zu unternehmen, damit diese französischen Juden wieder zurück nach Frankreich kommen. Anderseits betonte er die Solidarität der Juden Frankreichs für Israel. Wenn diese jedoch bereits ihre Aliya gemacht haben, bietet das Consistoire auch in Israel Hilfe an, um den Immigranten die Integration zu erleichtern. Weiter plädierte er für die Schaffung eines Consistoires als Vertretung der in Israel lebenden französischen Juden und deren politisches Sprachrohr in Israel. Dieses Consistoire, plant Mergui, soll dann eng mit der Mutterorganisation in Paris verbunden sein.


Von Anfang an lag die Verwaltung des Kultus in den Händen des Consistoires, das zum Beispiel Frankreichs Oberrabbiner ernannte. Auch heute noch sind viele jüdische Gemeinden Mitglieder des Consistoires, das sich daneben jedoch auch um jüdische Schulen und Ausbildungsplätze kümmert, sowie zahlreiche Kontakte mit Persönlichkeiten aus Kultur und Politik pflegt. Das wird nicht überall positiv gesehen.


Juden wandern aus dem Marais-Viertel um die Rue des Rosiers fort, Touristen kommen

„Das Consistoire soll sich weniger um Politik und mehr um religiöse Belange kümmern“, sagte mir im Marais-Viertel ein junger Franzose, der an seiner Kleidung leicht als orthodoxer Jude erkennbar war. Er führte mich in die Rue Pavée zur orthodoxen Synagoge Agoudas Hakehilot, die nicht dem Consistoire angehört. 1989 erhielt sie den Status eines französischen nationalen Kulturdenkmals, weil sie von dem berühmten Jugendstilarchitekten Hector Guimard gebaut wurde, der auch die Eingänge der Pariser Métro gestaltete, die inzwischen zum Weltkulturerbe zählen. Der Synagoge sieht man den Glanz früherer Zeiten an, doch heute fehlt es an Geld. Noch vor einigen Jahren war das dreistöckige G‘tteshaus mit zwei Emporen für die Frauen voll besetzt. Heute jedoch, erfahre ich, kommen gerade mal 150 Beter am Schabbat. Die Fluktuation in diesem wohl bekanntesten Pariser jüdischen Viertel ist bereits sichtbar.

 

Sehr beliebt war das Restaurant „Jo Goldenberg“ in der Rue des Rosiers. 1982 wurde von der Terrorgruppe Abu Nidal ein Bombenanschlag verübt, bei der mehrere Menschen getötet und viele verletzt wurden. Der Besitzer gab nicht auf und öffnete sein koscheres Restaurant, an das ein Delikatessenladen angeschlossen war, erneut, bis er es dann 2007 endgültig schloss. Zu wenige jüdische Kunden. Heute ist dort eine Modeboutique untergebracht.

 

Langsam verliert das Pariser Judenviertel seine Seele. Zwar leben dort immer noch einige, vor allem orthodoxe Juden, doch wird die Gegend immer mehr zu einer Touristenattraktion. „Weil unsere Kundschaft sich wandelt, haben wir das Angebot umgestellt“, sagt Florence Finkelsztajn, Besitzerin des frisch renovierten jüdischen Feinkostladens. Süße jüdische Leckereien liegen neben salzigem Gebäck, das in hübschen Schachteln als Souvenir für ein Mitbringsel aus dem Marais angeboten wird. Viele Läden schließen, dann übernehmen exklusive Modeketten das Areal. Die Mieten steigen, Juden ziehen weg. Alle zehn Meter locken auf der Rue des Rosiers kleine Restaurants. Viele tragen das Koscher-Zertifikat des Oberrabbinats. Immer noch fehlt in Paris jedoch ein Oberrabbiner. Im vergangenen Jahr musste Oberrabbiner Gilles Bernheim zurücktreten, weil er sich einen Doktortitel angeeignet hatte, den er nie bekommen hatte und ihm zudem auch mehrere Plagiate in seiner Diplomarbeit nachgewiesen wurden. Rabbiner Michel Gugenheim übernahm zwischenzeitlich diese Position. Doch jetzt gab Consistoire-Präsident Mergui bekannt, dass am 22. Juni, endlich nach mehreren Terminverschiebungen, der neue Großrabbiner von Frankreich gewählt wird. Dessen Amtssitz ist dann traditionell in der größten Synagoge Frankreichs, in der Rue de la Victoire. Das jüdische Leben geht weiter.

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